(gargoyleleaks) Ein Tuch aus Tüllspitze wird gelüftet und zum Vorschein kommt eine altchinesische weiße Porzellankanne. Sie ist überzogen mit einer blaugrauen Lasur – typisch für die Song-Dynastie (宋朝) – und einer Patina, die ihrer regelmäßigen Verwendung, damals wie heute, geschuldet ist.
Die Kanne wurde vor mittlerweile fast einem Jahrhundert zusammen mit weiteren Kulturschätzen aus dem Golf von Tonkin geborgen und von einem amerikanischen Antiquitätenhändler zu einem Spottpreis – zumindest für heutige Verhältnisse –erworben. Der Händler hatte eine Vorliebe für scharf gewürzte Speisen und so waren die eigentlichen Anlässe für seine häufigen Reisen vor allem in die südliche Provinz 云南 nicht geschäftlicher Natur; es waren die klaren, aromatischen Suppen mit variabler Einlage, die nicht ohne die exorbitante Verwendung von Taschentüchen zu genießen sind.
Exorbitant ist auch die Transporthistorie der Porzellankanne – Antiquariat, Nachlassräumung, Antiquariat, Universität, Zollfreilager, Museum, Zollfreilager, Galerie, Museum, Galerie, Zollfreilager – und es ist erstaunlich, dass das Sammlerstück bisher weitgehend unbeschadet blieb.
Die Kanne ist handgefertigt. Über der Eingießöffnung an ihrer Oberseite thront in herrischer Pose ein Miniatur-Wasserspeier mit einem zerklüfteten, breitmauligen Lachen. Die Ausgießtülle wölbt sich zwischen den reptilienartigen Beinchen hervor, sie symbolisiert das männliche Geschlechtsteil, das der eigentliche Gebieter der Kreatur zu sein scheint.
Das gute Stück steht derzeit auf dem Wohnzimmertisch im Apartement seines Besitzers. Der Besitzer ist derzeit Softwareentwickler im Bereich Cash Crops sowie für Sicherheitssysteme aller Art.
Der Wohnzimmertisch mutet gediegen an, ist jedoch eine parodistische Interpretation des Art-Nuovo-Stils und entstammt einer Serie, die in der Schweiz in den 1960er-Jahren von einem generationenübergreifenden Kollektiv von Designerinnen entworfen wurde. Die Möbel brachten sie mit großem Erfolg bei Cocktailpartys – es war die Zeit des kalten Buffets – unter die Leute. So finanzierten sie dada-feministische Happenings im öffentlichen Raum, mit denen sie das Frauenwahlrecht in ihrer Heimat einforderten. Die Schweiz, Inselstaat in Sachen Finanzen, war damals bekannt für ihre Vorreiterrolle bei der Förderung regionaler Küche (mouvement de cuisine régionale), Nachzüglerin aber bei der Geschlechtergleichstellung.
Ein blaugrauer Himmel starrt durch das Panoramafenster. Es ist Herbst – Erntezeit – und gerade so hell, dass man kein Licht anzünden möchte. Der Softwareentwickler stellt drei Teegläser neben der Porzellankanne ab. Seine Partnerin, eine überdurchschnittlich große Frau in einem überdurchschnittlich langen Morgenmantel, betritt grußlos das Wohnzimmer und betrachtet abwesend das Blumenarrangement, das sich in einer Ecke des Raumes zu einem Schrein auftürmt: Sinnbild ihrer Neigungen. Hier wird nicht auf Regionalität Wert gelegt oder darauf, Formen und Farben der verschiedenen Jahreszeiten einzufangen. Unter dem Eindruck von Klimawandel und Extremwetterlagen sowie im Antlitz globalisierten Handels vereinen sich hier tropische Zitruspflanzen grell harmonisch mit Hagebuttenzweigen, umkränzt von buschigen Goldhirse-Ärchen und weiß blühendem Wiesenkerbel. Lavendelheide, Mohnkapseln und Zierlilienvarianten, eingeflochten in ein Fiederpalmenblatt, liegen ohne Rücksicht auf den Kontext einem Geranien-Petunien-Fuchsienbouquet in verschiedenen Rosaschattierungen zugrunde. Die ganze Farbenpracht wirkt jedoch fahl, vor dem leuchtenden Orange der Physalis Peruviana, deren lampionförmigen Blüten jene schmackhafte Beere in sich tragen, die derzeit so manches Topfen-Granola-Müsli veredelt.
Die überdurchschnittlich große Frau pflückt einige Früchte und nimmt auf der blaugrauen Couch neben ihrem Partner Platz. Er hat die Porzellankanne mit kochendem Wasser und die drei Gläser mit getrocknetem Wald- und Wiesenwerk gefüllt – mit einem Tee, den ein Kollege mit Wohnsitz am Land jeden Sommer erntet, um ihn in kleiner Auflage an seinen Kunden- und Bekanntenkreis zu verschicken.
Der Softwareentwickler legt wortlos seinen Arm um die Hüfte der Partnerin. Sie lacht unerwartet auf – ein zerklüftetes Lachen. Ihre Oberlippe ziert die Narbe einer operativ korrigierten Lippen-Gaumen-Spalte. Der Softwareentwickler richtet sich auf und gibt der überdurchschnittlich großen Frau einen Kuss – sie schmeckt nach Physalis Peruviana.
Hinter ihnen an der Wand: ein altes Filmplakat, worauf in 50er-Jahre-Schrift geschrieben steht Aphra Behn. In diesem Moment ertönt aus der Küche eine Stimme: „Aphra Behn!“. Die Zwei auf der blaugrauen Couch erwidern im Chor: „Aphra Behn!“
Da tänzelt ein hungriger Mann ins Wohnzimmer. Die Zwei auf der Couch nennen ihn den Souschef, weil er von den Dreien im Raum zwar nicht am Besten, jedoch mit der größten Passion kocht. Drei gläserne Schälchen auf seinem Unterarm balancierend und mit drei silbernen Löffeln in der Hand klimpernd, schreitet er leicht schwankend vorbei am Blumenschrein und serviert das Frühstück.
Er macht eine übertriebene, höfische Verbeugung. Die überdurchschnittlich große Frau lacht ein weiteres Mal ihr zerklüftetes Lachen, macht eine theatralische Geste und garniert das Topfen-Granola-Müsli in den Glasschälchen mit ihrer Physalis-Ernte.
Zufrieden über den appetitlichen Anblick des Frühstücks, nimmt auch der Souschef neben der Partnerin Platz und legt seinen Kopf in ihren Schoß. Seine Hand streicht abwesend über die Finger des Softwareentwicklers, die gerade ihren Rücken kraulen. Nach einer arbeitsreichen Nacht kann man nun in Ruhe gemeinsam frühstücken.
Der Softwareentwickler gießt wortlos den Tee auf, während die anderen zwei entzückt dabei zusehen, wie die Kräuter und Trockenblumen im Wasser zu schweben beginnen.
Die Gänseblümchen werden ganz glasig – sie erinnern an Insektenflügel –, das Gelb der Margeriten löst sich auf und färbt das Wasser. Eine Glockenblume entfaltet sich zum letzten Mal bevor sie ganz zerfällt. Ringelblumenblätter drehen sich lasziv um die eigene Achse. In diesem Moment lacht der Softwareentwickler auf, doch es ist ein erschrockenes Lachen. Er hat einen Riss in seiner Porzellankanne entdeckt, der sich zwischen den Hinterbeinchen des Wasserspeiers ausbreitet.
Der Souschef legt seine Hand beruhigend auf den Rücken des Partners. Die überdurchschnittlich große Frau wirft das Tuch aus Tüllspitze über die kleine Lacke am Wohnzimmertisch. Aus den Gläsern dampft es, es dominieren Melissenaromen.