Genussfähigkeit als Wertsteigerung, oder: mit dem Genießen die Gräben schließen.
Ich möchte die Behauptung aufstellen, dass die Fähigkeit zu Genießen genauso geübt und verbessert werden kann wie andere Fähigkeiten auch. Viele der Aspekte, die den Genuss verstärken oder ermöglichen werden im in Episode 2 unseres Genusspodcasts erwähnt. Hier möchte ich ein bisschen breiter die Ausgangssituation schildern.
Wer genießen kann, dem eröffnet sich ein großes Potenzial an Lebensfreude. Und das hängt nicht zwingend mit den finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen zusammen. Die Fähigkeit zu genießen ist eine Frage der Perspektive und der Lebensauffassung. Sie kann der Motor für unsere Handlungen werden. Dabei ist das Resultat der Genussfähigkeit, nämlich der erlebte Genuss, in den meisten Fällen die zentrale Motivation Geld zu verdienen. Wofür geben wir es aus? Wenn wir die Habgier und das Prestige außer Acht lassen, wollen wir mit finanziellen Mitteln unseren Lebensgenuss steigern: einen Balkon an der Wohnung, ein neues Auto, sorgenfrei in die besten Restaurants, eine Absicherung, etc. Aber Achtung, ist die Fähigkeit zu Genießen nicht besonders ausgebaut, rennen wir den Dingen hinterher und unsere Vorstellung dessen, was wir fühlen werden, wenn wir es uns leisten können, tritt nicht ein. Wohingegen der genussfähige Mensch auch im Rahmen bescheidener Mittel starke Glücksgefühle entwickeln kann. Mich hat immer fasziniert, welche Rolle in unserer Gesellschaft das Geld spielt, ganz unabhängig davon, wie viel oder wenig Glück es bringt. Es ist ein Botenstoff, dem man nachrennt, und der einen so an der Nase herumführt, dass man auf die ursprüngliche Motivation dessen, was er bewirken soll, gänzlich vergisst.
Dem Genuss kommt demnach eine beinahe demokratische Rolle zu, der die Menschen auf beiden Seiten der Vermögenskluft wieder auf dieselbe Stufe stellt. Was ist damit gemeint? Eine weiterführende Frage: Was bringt es auf einem Sack Gold zu sitzen, wenn man das Potenzial, das er hervorbringt, nicht genießen kann? Da hat der bescheiden Bemittelte an einer frischen Wasserquelle mit geteiltem Sennerkäse auf der Alm mehr vom Leben. Ein Bestandteil der Motivation diese Plattform zu gestalten, war durchaus auch diesen Zugang deutlich zu machen. Den Abstand von Vermögenden zu den Wenig-Besitzern durch die Politik zu verringern ist beinahe aussichtslos geworden. Mehr Kapital schafft mehr Kapital. Eine ganze Generation an Erben steht vor der Tür und mit einem Schlag Freunden und Mitarbeitern gegenüber, die nicht in die Situation kommen werden, finanziell sorgenfrei zu sein.
Aber es gilt Ruhe zu bewahren! Denn besinnen wir uns auf das Genießen als Ziel des Besitzens, und darauf, dass die Fähigkeit zu Genießen aber unabhängig vom Besitz ist, dann können wir durchatmen (und das Thema Gerechtigkeit auf Ebenen führen, wo es lebensentscheidend ist, wie zum Beispiel eine besitzunabhängige, für alle gleichwertige medizinische Versorgung).
Bitte verzeihen Sie den gesellschaftspolitischen Einwurf, der noch dazu sehr europäisch ist, aber er verdeutlicht sehr gut, worum es hier geht. Nämlich nicht um die Frage eines Wettbewerbes des besten Geschmacks, sondern um die Freude an der Wahrnehmung von Umständen, Waren und Leidenschaften. Natürlich kann man mit Geld Spezialitäten kaufen, die einem ohne die notwendigen Mittel verwehrt bleiben, aber wenn man genau hinschaut, dann ist dieser Mehrgenuss oft nichts anderes als eine spontane Steigerung der Genussfähigkeit. Wir wenden all unsere Aufmerksamkeit auf, um die Trüffelnote aus der Pasta voll zu riechen und zu schmecken. Wir feiern die teure Flasche Wein mit Gleichgesinnten, deren Verzückung auch unsere Gefühle in Wallung bringen. Die Genussintensität hat meist nichts mit Geld zu tun, die Genussvielfalt hingegen schon. Es gibt Seltenheiten, die einzigartig sind und die der Markt mit einem entsprechenden Preis ausstattet, daran ist nicht zu rütteln. Aber der Genuss dieser Besonderheiten hängt mit Aspekten zusammen, die übertragen werden können auf die erlebten Besonderheiten von Allen. Vielleicht hilft eine Relation deutlich zu machen, was damit gemeint ist: Die Fähigkeit zu genießen erhöht den Wert einer Sache stärker als der Markt.
Das ist natürlich den Strategen des Marktes ein Dorn im Auge, denn die Rechnung wird komplizierter und nicht mehr so klar steuerbar, sobald eine subjektive Variable hinzukommt, die nichts kostet. (Frei nach Michel Serres »Der Parasit« sollte sich nun rasch ein Unternehmen finden, das Genussfähigkeits-Seminare zum Kauf anbietet.)
Über das Austauschen und Kommunizieren können wir unsere Genussfähigkeit stärken. Diese Plattform versteht sich somit auch als Gegenbewegung zu der Tendenz Lebensmittel online zu bestellen. Ähnlich wie Amazon den Besuch im Bücherladen durch sein Online-Angebot zu etwas Bemerkenswertes gemacht hat, will man uns in Zukunft aus Gründen der Bequemlichkeit und des unendlichen Sortiments den Weg in das Geschäft »ersparen«. In Österreich bieten fast alle großen Lebensmittelketten eine Lieferung nach Hause an. Dieses Service wird verstärkt beworben. Auch Amazon möchte mit seiner Erfahrung aus anderen Bereichen und seine Infrastruktur nutzen, um in dieses lukrative Geschäft einzusteigen (mit »Amazon fresh«). Wir sehen die Delikatess- und Feinkostläden als Gegenstrategie zum anonymen ordern von Essen und Trinken. Sie gilt es zu unterstützen.
Einer von vielen Artikeln zum Thema: Auflösung der kleinen Strukturen im Lebensmittelhandel