Schokolade ist voller Geschichten.
Thomas Kovazh von Schokov

Essay

Gutes Essen kommt aus den Traditionen

von Michael Langoth

Kochen ist älter als Sprache und begriffliches Denken. Kochen wurzelt im Instinkt, im intuitiven Handeln, im Gespür für das Richtige. Gutes Kochen entwickelt sich durch die ständige Wiederholung und die dabei gewonnene Achtsamkeit auf die kleinsten Details – und den Willen zur ständigen Verbesserung, um einen maximalen Genuss zu erreichen. Gutes Kochen entwickelt sich mit der Fähigkeit zum Genuss und führt zum guten Geschmack. Auch dieser ist nicht nur angeboren, sondern entsteht auch aus übender Kultivierung – aus aufmerksamem Training und Kennerschaft.

Viele entscheidende Details, die gutes Kochen ausmachen, sind den Kochenden gar nicht bewusst, weil sie für sie selbstverständlich sind, entstanden aus dem praktischen Tun, nicht aus Überlegungen. Ähnlich wie ein Musiker auf seinem Instrument magische Töne erzeugen kann, ohne zu wissen, was genau er dabei macht. Er tut es einfach, weil es gut klingt, und aus der ständigen Wiederholung sammelt er seine Erfahrung, vor allem durch die dabei gemachten Fehler. Wie ein Musiker muss der gute Koch alles aus eigener Erfahrung geübt haben, um aus dem Bauch heraus handeln zu können. Kochen ist ein Metier, in dem Intuition und ein Gefühl für Balance weit wichtiger sind als Konzepte und rationale Entscheidungen. Beim handwerklichen Kochen entwickelt man ein Gespür für das richtige Gleichgewicht zwischen zu viel und zu wenig in einem höchst komplexen Spiel aus unzähligen Detailentscheidungen.

Bis vor einigen Jahrzehnten wurden die Traditionen der regionalen Kochkulturen überall von Generation zu Generation persönlich weitergegeben, meist von Müttern und Großmüttern an Töchter und Enkelinnen. Schon im Kindesalter wurden durch gemeinsames Kochen eine Vielfalt von handwerklichen Techniken und ein profundes Wissen über die verwendeten Lebensmittel erlernt. Diese kollektive Kompetenz entwickelte sich durch tägliche Übung im Laufe von Tausenden Jahren, wobei fast alle Menschen als Akteure daran beteiligt waren. Die Produktion von Nahrungsmitteln und das Kochen waren so selbstverständlich wie Gehen oder Sitzen. Indem man es ein Leben lang täglich stundenlang praktizierte und übte, ist es – wie man so sagt – in Fleisch und Blut übergegangen. Man tat es einfach, ohne überlegen zu müssen, was man da eigentlich tut. Die wirklich relevanten Information wurden durch gemeinsame Arbeitspraxis weitergegeben, als pures learning by doing.

Diese Form der Weitergabe hat natürlich den Nachteil, dass die Fähigkeiten schnell verschwinden können, wenn die Kette der Weitergabe unterbrochen wird. Kriege und andere Katastrophen führten in der Geschichte immer wieder dazu, dass Kulturtechniken vergessen wurden. Das Kochen ist davon ganz besonders betroffen. Dabei gehen wertvolle, empirisch erarbeitete Fähigkeiten und kulinarische Glaubenssysteme verloren. Seit ein paar Jahrzehnten verschwindet diese traditionelle Weitergabe überall auf der Welt in rasentem Tempo, weil Kochen keine Notwendigkeit mehr ist. Wer heute überhaupt noch kocht, bezieht sein Wissen aus Kochbüchern und aus dem Internet. Die wenigsten haben es noch von der Mutter, Tante oder Oma gelernt. Das Problem dabei ist, dass etwas Entscheidendes verloren geht. Denn in den authentischen Traditionen wurde nicht nur das Kochen weitergegeben, sondern auch das Schmecken. Man wusste nicht nur, wie eine Speise zubereitet wird, sondern auch, wie genau sie schmecken sollte, was ihre eigentliche Qualität, ihr Wesen ausmacht. Bestimmte Gerichte wurden teilweise über lange Zeiträume im Alltag perfektioniert, sind allmählich gewachsen – so wie Sprachen. Auch Menschen, die nicht selbst kochten, waren kompetente Esser und kannten sich gut aus in ihrer jeweiligen Regionalküche. Sie waren gut darin, die Qualität einer Speise zu beurteilen, indem sie ihre kulinarische Muttersprache beherrschten.

Das ist heute nicht mehr so. Durch das riesige Angebot von Kochrezepten kann man heute alles Mögliche kochen und essen, von dem man eigentlich keine Ahnung hat. Das schmeckt dann meistens „interessant“ oder „überraschend“, aber das Wenigste davon würde sich als Alltagsspeise bewähren können, wenn es – sagen wir ein Jahr lang – jeden Dienstag gegessen würde. Das ist das Kriterium, das wirklich gutes Essen definiert: seine Alltagstauglichkeit!

Die regionalen Kochkulturen verhielten sich wie Sprachen und Dialekte. Die Menschen kannten die „Vokabeln“ ihrer Regional-​
küche in Form der rohen Zutaten, und sie kannten die „Grammatik“ in Form der Kochtechniken, die die Zutaten in eine „Erzählung“ verwandeln. Diese essbaren Geschichten kann man lesen, man kann sie mit den Sinnen des Tastens, Riechens und Schmeckens verstehen und genießen. Jede Speise erzählt eine Geschichte: im besten Fall Geschichten von der Landschaft, von den Jahreszeiten und von der Arbeit, der Geduld, dem Einflussbereich, dem Ideenreichtum und der Hingabe der Menschen. Und von ihrem handwerklichen Geschick. In der industrialisierten Gegenwart sind das jedoch immer öfter Geschichten von Missverständnissen und Täuschungsversuchen. Die wichtigsten Techniken des industriellen Kochens dienen dem Verstecken von Mängeln, die sich aus dem möglichst billigen Verarbeitungsprozess ergeben. Unangenehm schmeckende Zusatzstoffe werden mit weiteren Stoffen überdeckt.

 

Auszug aus: »Das kulinarische Manifest«, Michael Langoth, ISBN 978-3-7025-0868-5

Über den/die AuthorIn

Michael Langoth ist Fotograf und Musiker. Er fotografiert seit über 30 Jahren Essen im Studio Trizeps, das er mit Josef M. Fallnhauser in Wien betreibt. Mit Freunden und seinen Töchtern Laura und Sarah gründet er den Kochclub der „Kochgenossen“, die ihre Aufgabe in der Dokumentation von authentischen Kochsprachen aus aller Welt sehen. Aus dieser Zusammenarbeit sind bisher die preisgekrönten Bände „Mekong Food“ (2013), „Il Po“ (2014) und „Spirit & Spice“ (2015) hervorgegangen

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